Ungarn, November 1956 - Ukraine, Februar 2022
Ein Debattenbeitrag von Oberst a.D. Ulrich C. Kleyser, M. A., begonnen am 26. Februar 2022, ergänzt bis zum 27. März 2022.
Wie sich Stimmen und Bilder ähneln. Noch klingt bei Älteren im Ohr der verzweifelte letzte Aufruf des „Radio freies Ungarn“ am 4. November 1956 mit der Bitte um Hilfe des Westens, so wie der ebenfalls verzweifelte Aufruf des ukrainischen Präsidenten am 25. Februar 2022. Damals entschied sich der Westen, auch durch den neokolonialistischen Suez-Krieg der Franzosen und Briten „beschäftigt“, das sowjetische Einflussgebiet zu respektieren. Ein freies, demokratisches Ungarn hatte keine Chancen. Heute bleibt es bei verbalen - fast zynisch klingenden - Mitleidsbekundungen von Politkern für die in der Tat „unschuldigen Kinder“, von der beindruckenden - meist privaten und spontanen - Hilfe für Flüchtlinge abgesehen. Denn die Ukraine liegt außerhalb des NATO- und EU-Gebietes, im Vorhof der russischen Föderation, jedoch vor unserer Haustür im eigenen Vorgarten. Daher geht es auch uns an. Seit dem weitgehend friedlichen Zusammenbruch des Sowjetimperiums und den allgemeinen politischen Umwälzungen von 1989/91 hat kein Ereignis - selbst nicht der Terroranschlag des 9/11 - eine solche weltweite Resonanz erfahren wie dieser völkerrechtswidrige Angriffskrieg, wobei noch zu ergänzen ist, dass gut 1/5 oder auch mehr der VN-Mitgliedsstaaten gar nicht oder nur zögerlich Russland kritisieren und zudem weiter Wirtschaftsbeziehungen pflegen; ein untragbares Verhältnis, welches sich auch nach vier Wochen Vernichtungskrieg nicht wesentlich verändert hat.
Dabei war dieser - wiederholte - Völkerrechtsbruch bei Leibe keine Überraschung. Unabhängig von dem sich seit 2014 hinziehenden offenen wie verdeckten Krieg im Donbas zog sich vor den Augen der Weltöffentlichkeit seit Ende November 2021 die Schlinge um die Ukraine - als Manöver bagatellisiert - langsam aber sicher zu. Außer diplomatischen Versuchen blieb aus Blauäugigkeit, „Putin-Verstehen“, Angst oder auch aus Desinteresse eine deutliche Reaktion des Westens aus. Alle Einsichtigen und Wissenden hätten als Wollende damals schon reagieren können und Planungen für den Ernstfall entwickeln müssen. Die frühzeitig öffentlich gemachte Reduzierung der „Roten Linie“, wie schon 2014, auf einen vagen und vollmundigen „sehr hohen Preis“ dient mehr der Beruhigung der eigenen Bevölkerung und nicht einer Abhaltung Putins durch „Härte“. Die Wiederholung eines „faulen Friedens“ wie in München 1938 stand daher eher im Raum, als eine glaubwürdige gemeinsame Abschreckung.
Die Wiederholung eines „faulen Friedens“ wie in München 1938 stand daher eher im Raum, als eine glaubwürdige gemeinsame Abschreckung.
Unabhängig von dem derzeitigen, für westliche Militärexperten etwas verwirrenden, taktisch-operativen Vorgehen der russischen Streitkräfte in der Ukraine, hätten aber schon mit Grosny 1994/95 und 1999, [Aleppo später war weit weg!], Georgien 2008, jedoch spätestens mit 2014 zumindest die politischen Alarmglocken dröhnen müssen. Wirtschaftliche Eigeninteressen, Zögern, Halbherzigkeit und Nichthandeln des westlichen Europas hat nun die Ukraine - erneut - auszubaden.
Unser Westen hat Menschenrechte im Herzen, Völkerrecht im Mund, die eigene Wirtschaft im Kopf - aber nichts in der Hand, wenn man die Sanktionen außer Acht lässt, welche - fast schon vergessen - teilweise seit 2014 verhängt wurden. Doch Sanktionen allein haben historisch einen Aggressor ernsthaft noch nie von seinen Vorhaben abgehalten. Dazu sind die unterschiedlichen aktuellen Schwerpunktsetzungen - auch in der sogenannten demokratischen Weltgesellschaft der VN - allein schon im zentralen Europa eher bedrückend. Und für Deutschland - bislang - auch nur halbherzig und tröpfchenweise mit einem halben SWIFT und ohne Energiestopp. Die direkte Weiterfinanzierung der russischen Kriegsmaschine, vor allem durch Deutschland, ist ein Skandal und macht die verbalen Hilfeleistungen zu Worthülsen. Sollte die von Biedenkopf der alten Bundesrepublik zugeschriebene „ökonomische Interessengemeinschaft“ ohne außenpolitisch geforderte Verantwortung insgeheim die Wiedervereinigung überdauert haben?
Aber Angst ist immer ein schlechter Ratgeber, und nach Talleyrand ist „auch Nichthandeln Handeln“.
Dazu tut sich unsere Republik - wieder einmal - hervor mit Demonstrationen [mehr aus „German“ Angst, denn aus realer Ukraine-Unterstützung, „mourir pour Kiew“?], Wehklagen, Kerzen und Lichtspielen mit ukrainischen Farben. Gleichzeitig verdient die große, oft private und uneigennützige Flüchtlingshilfe große Anerkennung. Aber Angst ist immer ein schlechter Ratgeber, und nach Talleyrand ist „auch Nichthandeln Handeln“. Die zahlreichen Diskussionsrunden erschöpfen sich dabei zu häufig in militärpolitischer „Kaffeesatzleserei“, denn vom „sich´ren Port lässt sich gemächlich raten“. Das herbeigeredete Dilemma zwischen innerem sozialen Frieden und interstaatlicher Ukrainehilfe ist im Grunde nichts anderes als das Festhalten an dem zentralen Punkt einer zutiefst deutschen Klimapolitik, welche die übergreifende russische Bedrohung zu überlagern scheint. Und die nun so werbewirksam und vielleicht vorschnell verwendete nationale politische „Zeitenwende“ wird sich erst beweisen müssen. Putin hat augenscheinlich manche der Reaktionen nicht nur vorhergesehen und einkalkuliert, sondern mit seiner Entscheidung für Energielieferung nur gegen Rubel auch geschickt gekontert. Wieder einmal ist der Westen überrascht und, was schlimmer ist, auch ratlos.
In der politischen nationalen Diskussion schlägt man den Sack [die Bundeswehr], sollte aber eher den Esel treffen.
Den Esel, also die verschiedenen Regierungen, die politischen Eliten, aber auch die deutsche Gesellschaft, die seit 1991 [!] dem „ewigen Friedensprozess“ aufgesessen sind. Die Billigung des Satzes „Soldaten sind Mörder“ durch das BVG von 1994 zeigt nach wie vor seine Wirkung. Unsere friedensverwöhnte, verbrämt als postheroisch bezeichnete Wohlstandsgesellschaft scheut sich dann auch nicht, weiterhin Kinder in dem Prozess eines Friedenserhalts zu instrumentalisieren. Doch nicht - nur - die bestehende militärische Schwäche ist die Herausforderung, sondern eine zutiefst pazifistisch [Neitzel: strukturell] gesinnte Konsum- und Sozialgesellschaft eines Staates mit einem Defizit an strategischem, und hier nicht nur auf das Militärische bezogenem Denken, und nicht zuletzt mit einem nicht zu unterschätzenden tiefsitzenden Antiamerikanismus - auch jenseits von Trump - in vielen Gesellschaftsschichten. Daher ist auch mit dem späten, aber im Grunde richtigen 100 Milliardenprojekt - unabhängig von einer realistischen Zeitschiene nach gründlicher Analyse und aus dieser entwickelten klaren Zielen - keine Steigerung des nationalen Wehr- oder militärischen Verteidigungswillen zu erwarten. Grundlage hierfür muss die Umsetzung des mittlerweile alle politisch/gesellschaftlichen Bereiche ganzheitlich einbeziehenden Begriffs „umfassende Sicherheit“ sein. Eine Sicherheit, die weit über das militärische [Land, Luft, See, Cyber- einschließlich einer vermehrt energiefordernden [!] Digitalisierung - und Weltraum] hinausgeht und eng mit der Fähigkeit zur „Resilienz“ eines Staates verbunden ist. Sollten wir nicht den bewähren Satz: „[teure] vigilium pretium libertatis“ wieder zum Leben erwecken! Dann kann auch wieder das politische Gespann von Abschreckung und Entspannung erfolgreich wirken.
Niemand will - zu Recht - einen Krieg, aber zu denken gibt Clausewitz: „Jeder Staat hat eine Armee, entweder die eigene oder eine fremde.“ So bleibt nur, die alte klassische Forderung in moderner Form zu beherzigen: „Videant consules, ne res publica europaea detrimentum capiat“. Hierzu gehören allerdings und vor allem für Deutschland Entschlossenheit, Mut, Selbstbewusstsein und Standfestigkeit - Eigenschaften, die jedoch erst herausgebildet werden müssen, denn eine bedrückende Gemengelage aus Angst, Schuldgefühl, Neid und moralischer Hybris herrscht vor. Und ein „Quo usque tandem Putin?“ findet weiterhin ohne Europa statt. Möglicherweise wird sich bald auch die Frage stellen, ob diesem europäischen Völkermord - auch aus Selbstachtung heraus - auch militärisch Einhalt geboten werden muss. Daher muss die NATO bei dem sich möglicherweise noch ausweitenden Zivilisationsbruch auch über einen allgemeinen Krieg nachdenken, sich auf diesen vorbereiten und seine Mitgliedstaaten mit ihren Gesellschaften darauf einstimmen, wenn Russland den „Korken aus der Flasche zieht“. Denn letztlich könnte es um uns, unsere Sicherheitsordnung und damit insgesamt um unsere Gesellschaftsordnung gehen. Das bisher „Undenkbare“ darf nicht mehr ausgeschlossen werden.
Inzwischen kämpfen die Ukrainer mit Heldenmut. Eine hohe Zahl von Vertriebenen ist aufzunehmen. Aktuell kommen mehrheitlich Frauen und Kinder; von ihren Männern an die polnische Grenze gebracht, die nun selbst zur Verteidigung ihres Landes zurückkehren. Hochachtung für beide Gruppen! Denn, hier folgt Putin Clausewitz“ „Der Eroberer ist immer friedliebend, zu gerne zöge er ruhig in einen Staat ein“. Bei aller berechtigter Forderung, diplomatische Mittel zu erhalten und weiter zu nutzen, darf jedoch eines nicht außer Acht gelassen werden: Die Ukraine ist nicht nur Opfer, sondern bleibt eigenständiges politisches Subjekt, also keine Diplomatie über dessen Kopf hinweg! Doch was ist zu tun?
Die Ukraine ist nicht nur Opfer, sondern bleibt eigenständiges politisches Subjekt, also keine Diplomatie über dessen Kopf hinweg!
Interessant ist, dass in der Diplomatie und der allgemeinen Wertediskussion der wesentliche Ost-Westunterschied gar nicht oder nur kaum angesprochen wird. Darin liegt unsere eigentliche Chance. Denn es geht nicht - nur - um Demokratie, sondern darum, dass der Westen mit seiner freiheitlich liberalen Gesellschafts- und Wirtschafts- und Rechts- wie Sozialordnung, trotz ihrer auch anzusprechenden Schwächen, ungleich attraktiver ist als der „Osten“. Und dies nicht nur trotz Helsinki 1975. Warum also nur wollen alle in den Westen und nicht Richtung Moskau? Dies sollte auch Putin zu denken geben, wenn auch nur als schlagendes, wenn auch leider nicht durchschlagendes wie durchsetzungsfähiges Argument. Wesentlich für diese Diskussion bleibt die Feststellung, dass es sich im Westen begrifflich um eine [offene] Ordnung und nicht um ein [autokratisches oder diktatorisches] System handelt.
Zuerst erscheint eine konzertierte, westliche Informationskampagne auf allen technisch möglichen Kanälen erforderlich, um der russischen [und auch chinesischen] Propaganda Paroli zu bieten. Denn auch dieser weltweite Krieg um die Meinungshoheit findet längst statt. Schläft der Westen wieder einmal und lässt sich auch hier das Heft aus der Hand nehmen? Damit eng verbunden muss eine gezielte Abfederung der Sanktionen in der sog. 3. Welt erfolgen mit Schwerpunkt in Afrika, vor allem hinsichtlich der Ernährung [Weizen etc.] und hochwertiger Entwicklungstechnik. Es ist an der Zeit, auch bei uns wieder geopolitisch denken und dann auch handeln zu lernen. Und dies auf einer anderen Ebene als der dem französischen Ansatz folgenden Kooperationsvertag mit Italien, der wieder einmal die Absurdität europäischer Zusammenarbeit bestätigt. Gerade jetzt, trotz und unter dem Grauen des Ukrainekrieges, könnte sich hierdurch eine unseren Interessen entsprechende langfristige Schwächung Russlands, und ggf. auch Chinas, und damit eigener stärkerer Einfluss ergeben. Dieser realpolitische Ansatz sollte nicht übersehen werden. Und geopolitisch wird dieser Ansatz sinnvoller und nachhaltiger sein als der derzeitige so wohlmeinende Rückgriff auf eigene koloniale Schuldvergangenheit.
Erst anschließend müssen eine Überarbeitung des Völkerrechts, eine Neustrukturierung der VN, eine Wiederbelebung der OSZE und schließlich auch eine Weiterentwicklung der außen- und sicherheitspolitischen Handlungsfähigkeit der EU auf der politischen Tagesordnung stehen.
Es ist an der Zeit, dass aus dem bisherigen Friedensprojekt Europa nun auch ein verantwortungsbewusstes Machtprojekt Europa wird.
Doch zurück zu Putin. Unterschätzt wird im Westen die tiefe „russische Seele“, die sich Putin zu Nutze macht. Das „heilige Mütterchen“ Russland, mit seinem realen wie mythisierten Geburtsort Kiew [Kiewer Rus] ist in der Verbindung mit der russischorthodoxen Staatskirche und seiner Volksfrömmigkeit tief in die russische Seele eingebrannt. Auch die sprichwörtliche historische Leidensfähigkeit seiner Bevölkerung sollte nicht unterschätzt werden. „Allrussland“ ist somit keine Floskel, sondern ein tiefes inneres Bedürfnis. Daher scheint die westliche Erwartungshaltung eines innerstaatlichen Systemwandels oder gar -sturzes eher unserer Blauäugigkeit zu entsprechen als einer realen Analyse.
Und abschließend eine sich historisch immer wieder bestätigende Wahrheit, so Seneca: „Zu spät wird der Geist zum Bestehen der Gefahr erst nach der Gefahr gerüstet“.